Geschichte des Berliner Lehr- und Forschungsinstitutes

Dieser Artikel fasst in drei ausgewählten Schlaglichtern die Geschichte des Berliner Lehr- und Forschungsinstitutes zusammen. Die Autorin Gabriele von Bülow hat diesen Vortrag beim Symposium zum 50. Geburtstag des Berliner Lehr- und Forschungsinstitutes und 100. Geburtstag von Günter Ammon gehalten.

 


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Mitarbeiter, liebe Gäste,

50 Jahre Geschichte des Berliner Lehr- und Forschungsinstitutes (LFI) der Deutschen Akademie für Psychoanalyse (DAP) e. V. lassen sich schlechterdings nicht in einen 45-minütigen Vortrag pressen, ohne Referentin und Publikum hoffnungslos zu strapazieren. Daher soll der Versuch unternommen werden, anhand von drei ausgesuchten Schlaglichtern die Entwicklung des Instituts in einigen wesentlichen Momenten einzufangen. So sollen im Folgenden beleuchtet werden:

1) Die Gründungsjahre: 1968-1970
2) Der Kampf um die Psychiatrie-Reform und um die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik: 1971 ff
3) Die heutige Situation

 

1) Die Gründungsjahre: 1968-1970

Zur Vorgeschichte: „1965 eröffnet Ammon in der Wielandstr. 27/28 Berlin (Nähe Kudamm) im 3. Stock eine nervenärztliche und psychoanalytische Praxis, im hinteren Teil der Etage ist die Wohnung gelegen. Er beginnt zusammen mit seiner (ersten) Frau Einzel- und vor allem Gruppenpsychotherapie. Der Bedarf an Gruppenpsychotherapie ist groß, durch seine Mitarbeit an der psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studenten der Freien Universität Berlin kommen in ständig wachsender Zahl junge Patienten in seine Praxis. Zu dieser Zeit macht Ammon in Berlin als Einziger Gruppenpsychotherapie, auch das Angebot an Einzeltherapie durch andere Berliner Analytiker ist gemessen am Bedarf gering. Ammon ist vom Ausmaß der Probleme unter den Studenten betroffen und richtet so viele Therapiegruppen ein, wie er organisatorisch und therapeutisch verantworten kann“ (Volger 1983, S. 349).

Das Institut, dessen 50. Geburtstag wir heute feiern, wurde Anfang des legendär gewordenen Jahres 1968 (Der Philosoph Peter Sloterdijk nennt es eines der „dichtesten Jahre der Weltgeschichte“) gegründet unter dem Namen „Lehr- und Forschungsinstitut für Psychodynamische Psychiatrie und Gruppendynamik“. Der Name ist Programm. So lesen wir in der ebenfalls 1968 von Günter Ammon begründeten Zeitschrift „Dynamische Psychiatrie / Dynamic Psychiatry“ in der ersten Nummer, die am 1. April 1968 erschien: „Es ist die Aufgabe dieses Instituts, ein psychiatrisches Zentrum für Behandlung, Forschung und Ausbildung zu schaffen. Das Institut bietet Konsultation wie regelmäßige Unterweisung für Psychiater und andere Mitglieder psychiatrischer Teams in Einzel- und Gruppensitzungen an. Es will eine zusätzliche psychodynamisch-orientierte Ausbildung im Stile der Menninger School of Psychiatry fördern. Ferner werden Kurse zur Ausbildung in Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie angeboten, u.a. ein Kursus für Gruppen-Dynamik, eine Lerngruppe, 20 Doppelstunden (groupdynamic teaching and study experience) und für Mitglieder, die zur Gruppenpsychotherapie geeignet sind, regelmäßige Teilnahme an Gruppen als Beobachter oder Gäste. […] Das Institut ist eine private, universitätsunabhängige Institution“ (Dynamische Psychiatrie 1, S. 65).

In Thematik und Diktion atmet die Zeitschrift dieser Jahre den Pioniergeist des gesellschaftlichen Aufbruchs der 68er (nicht nur) in Berlin. Es sei hier nur an einige Ereignisse erinnert, um den historischen und politischen Kontext dieser Jahre zu skizzieren – was 1968 Berlin und darüber hinaus die Welt bewegte:

  • Juni 1967: Tödliche Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg in Berlin
  • Februar 1968: Internationaler Vietnam-Kongress in Berlin
  • April 1968: Beginn der Kriminalisierung / Militarisierung an dem gewaltbereiten Rand der APO (Außerparlamentarische Opposition)
    Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern durch die späteren RAF-Gründer Gudrun Enslin und Andreas Baader. Im anschließenden Brandstifterprozess sechs Monate später wurden die Täter zu drei Jahren Zuchthaus wegen menschengefährdender Brandstiftung verurteilt.
  • April 1968: Ermordung Martin Luther Kings
  • April 1968: Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin an einem Gründonnerstag. An den darauf hin ausbrechenden „Osterunruhen“, Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet, beteiligten sich circa 50.000 Menschen. Im SPIEGEL war zu lesen: „Es kam zu Straßenschlachten, wie sie Westdeutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hatte.“
  • Mai 1968: Sternmarsch auf Bonn gegen die Notstandsgesetze
  • Mai 1968: „Pariser Mai“
  • Juni 1968: Attentat auf Robert F. Kennedy
  • August 1968: Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei: Ende des „Prager Frühlings“
  • China befindet sich im dritten Jahr seiner Kulturrevolution
  • August 1969: Woodstock, Festival for Peace and „Make love, not war“

Aber zurück zum ersten Heft der Zeitschrift „Dynamische Psychiatrie“. In ihr spricht  Ammon von der Verantwortung der Gesellschaft, die „mit Angst und Feindseligkeit auf die sogenannte schizophrene Reaktion“ reagiere und „von der Notwendigkeit der Aufklärung und Mitarbeit der gegenwärtigen Gesellschaft.“ Er sagt: „Eine moderne Dynamische Psychiatrie […] soll vorbeugend, beratend und verändernd auf die Gesellschaft als Ganzes einwirken.“ Er spricht von den Psychiatrie-Patienten als einer als „minderwertig empfundenen Großgruppe, die von einer als höherwertig empfundenen Kleingruppe repressiv beherrscht“ werde und kritisiert, „dass die Kleingesellschaft der mittelalterlichen Heil- und Pflegeanstalten in ihrer Inhumanität und autoritativen Hierarchie die autoritativen Züge unserer Gesamtgesellschaft widerspiegelt“ (Ammon 1968, S. 8f.).

Im gleichen Heft findet sich ein Bericht über die „Psychotherapeutische Beratungsstelle – Beratungsstelle für Intimfragen an der Freien Universität Berlin“ von Hubert Bacia. Als „eine Selbsthilfeorganisation der Studierenden“ entstanden, sei sie „zu einem der Identifikationsobjekte in der Emanzipationsbewegung der Studierenden“ geworden. „Es ist für die Bewusstseinsbildung einer abhängigen Gruppe [der Studierenden; v. B.] von Bedeutung, ob ihr Hilfe in sozialen und psychischen Konflikten von einer Universitätsadministration angeboten wird, die zur gleichen Zeit durch autoritäre Maßnahmen wie Zwangsexmatrikulation und Disziplinarrecht die Abhängigkeit des Studierenden verschärft, oder ob die Studierenden in Selbsthilfe die Chance gewinnen, auch in den sozialen und psychischen Notsituationen ihres Studiums die Wirkung überflüssiger gesellschaftlicher Autorität zu erkennen, wie sie […] in der patriarchalisch aufgerichteten Ordinarienhierarchie einer überfüllten Universität angetroffen wird“ (Bacia 1968, S. 52).

„Vom Wintersemester 1965/66 bis zum Ende des Sommersemesters 1967 teilte sich Dr. G. Ammon zusammen mit [der Ärztin; v. B.] Frau Lange-Undeutsch und der Ärztin und Psychoanalytikerin Dr. M. Schulte die Arbeit in der Beratungsstelle. Mit Dr. Ammon […] wurde in die therapeutische Tätigkeit der Stelle das Prinzip der Gruppentherapie eingeführt. Die Gruppentherapie hat sich mittlerweile als ein nützliches Therapeutikum erwiesen.“ (Bacia 1968, S. 54) „Im WS 1965 und im SS 1966 wurden von ihm 134 Studierende beraten. 51 Studierende konnten in Gruppentherapie übernommen werden.“ (Bacia 1968, S. 56) Diese fand statt in den Praxisräumen von Günter Ammon in der Wielandstraße.

Durch einen glücklichen Zufall war es mir kürzlich möglich, einen ehemaligen Patienten, Herrn H., zu interviewen, der vom April 1968 an zwei Jahre an einer von Ammon geleiteten Psychotherapiegruppe teilnahm.  Er beschreibt das West-Berlin von 1967/68 als einen „hochneurotischen Ort, durch diese Lage an der Grenze der beiden Lager von Ost und West. Hier war alles Weltpolitik, hier lagen die Nerven blank, hoch hysterisch. West-Berlin ist das Pflaster, wo die Revolution passieren kann.“ Ammon habe als sehr progressiv gegolten, liberal, habe bestimmt auch Sympathien mit der Studentenbewegung gehabt; das sei auch ein Grund dafür gewesen, warum so viele Leute, die er, Hr. H., vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) kannte, plötzlich in Ammons Gruppen saßen. Zum zentralen Thema wurde schnell „Steine werfen oder nicht“; es sei emotional eine sehr aufwühlende Sache gewesen, wenn Gruppenmitglieder über ihr gewalttätiges Sich-zur-Wehr-Setzen gegen die Polizei (statt wegzulaufen, wie vorher) berichtet hätten. Es seien ausschließlich Männer in seiner Gruppe gewesen, generell waren es ganz überwiegend Männer, vielleicht eine Frau unter sieben Teilnehmern. Ammon habe ganz strikt verlangt, dass jeder in der Gruppe erklärte, dass er keine Gewalt ausüben würde. Eine ganze Reihe von Patienten habe die Gruppe daraufhin verlassen.

Es ist mir nicht gelungen, das exakte Gründungsdatum des Berliner Instituts zu eruieren – nur so viel ist sicher: dass es in das erste Vierteljahr des Jahres 1968 fällt. Während andere Gründungen oder bedeutungsvolle Ereignisse auf einem mit Schreibmaschine beschriebenen Blatt auf den Tag genau aufgelistet sind, fehlt dieses Datum interessanterweise.

Der damalige Präsident der American Group Psychotherapy Ass., Dr. Aaron Stein, „bittet das Lehr- und Forschungsinstitut mit Schreiben vom 8. Januar 1968“ um Unterstützung für einen internationalen „Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet der Gruppenpsychotherapie“ (Dynamische Psychiatrie 1, S. 65). Dennoch scheint es sich eher um einen prozesshaften Beginn gehandelt zu haben, in dem das Berliner LFI, drei Jahre nach der Rückkehr Ammons aus den USA, Gestalt annahm.

Einige weitere Gründungs- sowie andere Aktivitäten seien an dieser Stelle nur kurz erwähnt:

  • Oktober 1968: Gründung (Eröffnung) des „Psychoanalytischen Kindergartens“, zunächst einmal wöchentlich, unter der Leitung von Gisela Ammon, der ersten Ehefrau Günter Ammons.
  • Mai 1969: Gründungsversammlung der Deutschen Gruppenpsychotherapeutischen Gesellschaft (DGG) e.V. in Berlin.
  • Juli 1969: Vortragsveranstaltung der DGG und der aus dem Mitarbeiterkreis des Berliner LFIs hervorgegangenen „Pinelgesellschaft zur Förderung von Fortschritten auf den Gebieten der Psychiatrie und Psychoanalyse m.b.H.“ im vollbesetzten Audimax der FU Berlin, in dem in diesen Jahren viele Redeschlachten im Kontext von Studentenbewegung, SDS und APO (Außerparlamentarischer Opposition) stattfanden. Exakt zwei Jahre zuvor hatte hier Herbert Marcuse über „Das Ende der Utopie“ und „Das Problem der Gewalt in der Opposition“ gesprochen. Günter Ammon sprach nun über „Psychoanalyse und Gruppentherapie – Anpassung oder Emanzipation“ und Martin Grotjahn aus Los Angeles über den „Einfluss der Gruppenpsychotherapie auf die Familie der Zukunft“. (Prof. Dr. med. Martin Grotjahn, ein Schüler Franz Alexanders, hatte vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin Medizin studiert, wo er auch an der Universitätsklinik und am Berliner Psychoanalytischen Institut wirkte.)
  • Dezember 1969: Gründung der Deutschen Akademie für Psychoanalyse. Das LFI Berlin wird damit zum zentralen Ausbildungsinstitut der DAP und DGG: „Das Lehr- und Forschungsinstitut für Dynamische Psychiatrie und Gruppendynamik Berlin ist das Ausbildungsinstitut der Deutschen Akademie für Psychoanalyse e.V. und der Deutschen Gruppenpsychotherapeutischen Gesellschaft e.V. Die Ausbildung zum Psychoanalytiker und die Ausbildung zum Gruppenpsychotherapeuten sind miteinander verbunden. Sie erfolgen im Rahmen eines einheitlichen Lehrprogramms, das sich über vier Jahre erstreckt“ (Dynamische Psychiatrie 3, 1970, S. 117). „Der DGG ist ein Lehr- und Forschungsinstitut (LFI) angegliedert, das in den ehemaligen Räumen des Republikanischen Clubs junge Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter zu Gruppenpsychotherapeuten ausbildet. Die Pinel-Gesellschaft versteht sich als Bürgervereinigung, die die dynamische Psychiatrie als praktische Sozialarbeit verwirklichen will.“ (P. L., Publikation von 1970)
  • Juni 1970: Der Psychoanalytische Kindergarten wird erweitert; er findet ganztägig sechsmal in der Woche statt. Im Juni 1971 erfolgte die Anerkennung des Kindergartens durch die Senatsverwaltung Berlin. Ende der 70er Jahre wird der Berliner Psychoanalytische Kindergarten über 100 Plätze haben, inklusive eines Schülerhorts, für den weitere Räume am Kurfürstendamm angemietet wurden.
  • 8. Oktober 1970: Die zweite Etage der Wielandstraße 27/28 mit den Räumen des jungen Ausbildungsinstituts für Psychoanalyse wird feierlich eröffnet: „Zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland waren erschienen, Grußbotschaften führender Analytiker und Therapeuten aus aller Welt wurden verlesen, unter anderem von Manfred Bleuler (Schweiz), Robert Barnes (USA), Slavson (USA), Holzkamp (Berlin) […], Kotkov (USA), Spiegelberg (Stuttgart), Rubins (USA), Hidas / Buda (Ungarn), Knobel (Argentinien), Gonzales (Mexiko), […] W. Schulte (Tübingen). Einen Höhepunkt bildete der Festvortrag von Masud M. Khan (London) (ein enger Schüler und Mitarbeiter Winnicotts), der sich mit den Problemen der psychoanalytischen Ausbildung beschäftigte.“ (Dynamische Psychiatrie 3, 1970, S. 237)

In den letzten Monaten wird wieder einmal intensiv darüber diskutiert, ob 68 im Rückblick nur eine historische Episode oder tatsächlich der Ursprung einer fundamentalen sozialen, politischen und kulturellen Veränderung der bundesrepublikanischen Gesellschaft war. Sicher ist, dass die Entstehungsgeschichte des Berliner LFIs eng mit diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund verwoben ist, sodass wir uns noch einmal auf die Suche nach Spuren der 68er-Bewegung bzw. der Auseinandersetzung mit ihr begeben wollen.

Einer der ersten zentralen Mitarbeiter seit 1970 war Hans-Joachim Hameister, Gründungsmitglied der Kommune 1 (prominent gewordene Mitglieder waren etwa Fritz Teufel und Rainer Langhans), später Arzt für Homöopathie und Nerven- und Gemütsleiden. In einer unveröffentlichten Schrift von 1970 schreibt er: „Die Verdrängung der Psychoanalyse aus dem Diskussionszusammenhang der bürgerlichen Wissenschaft und die Hindernisse, die sich ihrer praktischen Entfaltung entgegenstellen, sind […] in dem Umstand begründet, dass die psychoanalytische Theorie mit einer verändernden Praxis so eng verbunden ist, dass sie  nicht folgenlos gelehrt und gelernt werden kann. Insbesondere die Anwendung der Psychoanalyse auf das Studium von Gruppenprozessen hat sie zur Basis einer wissenschaftlichen Kritik der menschenfeindlich organisierten Arbeit werden lassen. Die orthodoxe Analyse, die ihre Arbeit als Denkmalspflege der Monumente der Freudschen Theorien betreibt, hat daraus allerdings keine Konsequenzen gezogen. Sie hält sich fern von der sozialen Problematik […] und bezahlt mit gesellschaftlicher Irrelevanz ihre gesellschaftliche Anerkennung, die eher eine Duldung ist.“ In seinem Vortrag über die Arbeit des Instituts bei der oben erwähnten Einweihung der zweiten Etage sprach Hameister als Vertreter der Studentenschaft des LFI über das Institut als „befreites Gebiet“ und zog Parallelen zu dem Lebenswerk des Fürsten Kropotkin und der frühen Arbeiterbewegung. (Dynamische Psychiatrie 3, 1970, S. 238). Pjotr Alexejewitsch Kropotkin war ein aus russischem Hochadel stammender Anarchist, Geograph und Schriftsteller, der sich sich für eine gewalt- und herrschaftsfreie Gesellschaft engagierte, die sich durch eine tätige wechselseitige Hilfe freier Individuen und Gruppen auszeichnen sollte.

Ammons Auseinandersetzung mit dem ebenfalls in Berlin geborenen deutsch-amerikanischen Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse, einem der einflussreichsten geistigen Mentoren der Studentenbewegung, schlägt sich noch nieder im Titel seines Buches „Der mehrdimensionale Mensch“ (1986), das so auch auf Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ von 1967 (amerikanische Erstausgabe: 1964) antwortet. In einem Vortrag im Audimax der Universität München Anfang 1970 hebt Ammon das Verdienst Marcuses hervor, „der psychoanalytischen Kulturtheorie eine Zukunftsdimension eröffnet zu haben.“ Allerdings kritisiert er, dass Marcuse „der resignierenden Anpassung an die Gesellschaft, welche das Ziel der psychoanalytischen Therapie sei, die bewusste Verweigerung dieser Anpassung gegenüberstelle, eine Idee, welche mit der Resignation durch geheime Verwandtschaft verbunden“ sei. Marcuse überschreite nicht „den Bereich der Spekulation“ und vernachlässige „den empirisch wissenschaftlichen Charakter der psychoanalytischen Arbeit“ (Ammon 1970a, Seite 6). In seiner Einleitung zur zweiten Auflage des „Mehrdimensionalen Menschen“ wird Ammon noch ein halbes Jahr vor seinem Tod schreiben: „Als dieses Buch vom mehrdimensionalen Menschen 1986 erschien, setzte es der Eindimensionalität des Menschen von Herbert Marcuse mit seinem einengenden Pessimismus und der fast suchtartig zerstörenden Hinterfragung aller Werte ethische Prinzipien mit einem positiv gesehenen breiten und befreienden Spektrum des menschlichen Potentials entgegen […] integrative zur Identität führende Werte“ (Ammon 1995, S. I). Aber wieder zurück ins Jahr 1970. Ammon veröffentlichte „Ich-Struktur und Gesellschaft: Zur psychoanalytischen Kulturtheorie“ – auch dieser Titel eine für den Zeitgenossen deutliche Replik auf Herbert Marcuses „Triebstruktur und Gesellschaft“, das in der Bundesrepublik Deutschland erstmals 1967, 22 Jahre (sic!) nach der amerikanischen Erstausgabe erschienen war und von allen, die sich irgendwie dem linksbewegten Spektrum zugehörig fühlten, eifrig gelesen wurde. Hier setzt sich Ammon unter Anwendung des psychoanalytischen Instrumentariums kritisch mit zu neuer Unfreiheit führenden, eigene Identität verbietenden Strömungen der damaligen Linken auseinander: „ […]  der ‚Untertan’ ebenso wie  der ‚Revoluzzer’ werden ihre eigenen Ansprüche nicht ohne Schuldgefühle anmelden können. […] Der Revoluzzer kämpft für ein Recht, von dem er nicht überzeugt ist, dass es ihm wirklich zusteht […]. Diese Problematik scheint uns auch eine wahrhaft obsolete Auseinandersetzung innerhalb einiger Gruppen der Linken zu bestimmen, welche ihren Mitgliedern die Ich-Entwicklung verbieten und wie Lutz von Werder (1969) sagen, Ziel der persönlichen Entwicklung dürfe nicht die Ich-Autonomie sein, sondern das Klassenbewusstsein. Die revolutionäre Geste drapiert hier die lebensfeindliche Über-Ich-Organisation des verrotteten Bürgertums, wie es im Faschismus seine historische Gestalt gewonnen hat. In Wahrheit kann revolutionäres Bewusstsein nur dann schöpferisch sich entfalten und organisieren, wenn es basiert auf Ich-Identität und Kommunikationsfähigkeit. […] Gruppen, welche die Emanzipation ihrer Mitglieder zur Ich-Identität als Gefahr für ihren eigenen Zusammenhalt erfahren, können selbst weder emanzipatorisch arbeiten noch eine eigene Gruppenidentität entwickeln und sich zur handlungsfähigen Gruppe integrieren“ (Ammon 1970b).

Zum Verhältnis zwischen antiautoritärem Kinderladen und psychoanalytischem Kindergarten sei hier nur so viel angedeutet: Beiden Konzeptionen gemeinsam war das Ziel der Befreiung des Kindes aus unhinterfragten, starren, die kreative Entwicklung verhindernden Konventionen, Reglementierungen und Verboten. Was beide von einander unterscheidet, ist genauso bedeutsam: Der anarchistischen Haltung eines grenzenlosen Laissez-faire, das, wie wir längst erlebt haben, zu emotionaler Verwahrlosung und Verlassenheit führte, setzte der psychoanalytische Kindergarten eine Pädagogik entgegen, die von Anfang an um die Bedeutung von Identifikationsangeboten und Grenzsetzungen für die kindliche Identitätsentwicklung wusste. Kindern, die keine entwicklungsgemäße Förderung und Forderungen erfahren, keine Grenzen, die sie verinnerlichen könnten, zum Aufbau eigener Ich-Grenzen, wird ein geschützter intermediärer Raum vorenthalten, innerhalb dessen seelisches Wachstum erst möglich ist.

Fragen wir uns abschließend, was Ammon eigentlich so anziehend für viele 68er machte? Eine Antwort darauf könnte sein: das paradoxe Spannungsverhältnis von Autoritätskritik an den verkrusteten Institutionen der Gesellschaft, die er selber übte und dem Angebot von Identifikationsmöglichkeit und differenzierender Auseinandersetzung mit Autorität in Gestalt seiner eigenen Person.

„Die letzte große Vaterfigur in einer vaterlosen Gesellschaft“ nannte ihn der SPIEGEL in einem Artikel von 1985. Es sei daran erinnert, dass „Autorität“ von lat. „augere“ = „fördern, wachsen lassen“ kommt. Sein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit um des Identitätswachstums seines Gegenübers willen hielt sich gelegentlich nicht an die gesellschaftlich-konventionelle Höflichkeit (des „falschen Selbst“). „Die meisten Menschen sind sehr bescheiden. Sie erwarten nicht mehr, als dass man mit ihnen höflich umgeht“, hörte ich ihn einmal sagen. Für mich persönlich war ein Faszinosum die Verbindung zwischen tiefem, alle persönlichen Kräfte mobilisierenden Engagement für die psychisch Kranken und vitaler Lebenszugewandtheit und Genussfähigkeit. Dass er keine asketische Selbstverleugnung vorlebte, war für viele befreiend, ist ihm aber auch von einigen äußerst übel genommen worden. Er entzog sich schlicht einer kategorialen Einordnung.

 

2) Der Kampf um die Psychiatrie-Reform und um die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (KaBoN)

Am 20. November 1971 ziehen zwischen 1.100 und 2.000 Ärzte, Pfleger, Schwestern und Studenten in einem Protestmarsch vom Olivaer Platz zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um gegen die fristlose Kündigung des Reformpsychiaters Professor Horst Flegel als ärztlicher Direktor der KaBoN durch das Bezirksamt Reinickendorf zu demonstrieren. Dazu aufgerufen hatte die Deutsche Akademie für Psychoanalyse, die Pinel-Gesellschaft zur Förderung psychiatrischer Kliniken und wissenschaftlicher Forschung nach den Erkenntnissen der Dynamischen Psychiatrie sowie der Marburger (Ärzte)Bund. Die Aktion fand breiten Widerhall in der gesamten bundesrepublikanischen Presse, vom Berliner Lokalblatt bis zur FAZ, WELT und SÜDDEUTSCHEN. Flegel hatte begonnen, therapeutische Gemeinschaften zu bilden, das Pflegepersonal in die Teamarbeit einzubinden und Gruppentherapie einzuführen.

„Die Proteste richteten sich auch gegen die Situation in der Berliner Psychiatrie und den psychiatrischen Kliniken allgemein. So hieß es denn auch, ‚Valium hilft der Industrie, den Patienten aber nie’. Womit sich die Demonstranten gegen die übermäßige Anwendung von Beruhigungsmitteln in den Kliniken aussprachen. Nur die ‚therapeutische Gemeinschaft’ und gruppendynamische Behandlung der psychisch Kranken hilft nach Ansicht der Pinel-Gesellschaft und mit ihr solidarischer Gruppen auf lange Sicht“ (Berliner Morgenpost vom 21.11.1971). Der TAGESSPIEGEL zitiert Ammon: „Wenn das Bezirksamt sage, die zwischen Professor Flegel und dem Personalrat entstandenen ‚Spannungen’ hätten die Behörden gezwungen, zur Erhaltung des Arbeitsfriedens den Ärztlichen Direktor zu entlassen, dann werde damit die ‚reformfeindliche’ Haltung der Behörden deutlich, denn ‚Spannungen’ entstünden unausweichlich, wenn alte Strukturen der Krankenversorgung verändert werden sollen“ (20.11.1971).

„Professor Flegel hat versucht, Schwestern, Pfleger und Ärzte in Teamarbeit Therapie betreiben zu lassen. Das hat Angst erzeugt unter Ärzten, die ihren weißen Kittel als Statussymbol betrachten. […] Er [Dr. Günter Ammon] […] nannte die Anstalt in Wittenau eine hierarchisch verwaltete Klinik, in der jahrzehntelang Patienten ‚wie Zootiere verwaltet’ wurden“ (BZ vom 20.11.1971).

Schon am 11.11.1971 hatten Dr. med. Günter Ammon für den Vorstand der DAP und Dr. med. Jürgen Götte für den Vorstand der DGG in einem Brief an den Senator für Gesundheit und Umwelt, Professor Dr. Wolters, geschrieben: „Es wäre ein schwerer Schaden für die Westberliner Psychiatrie, für die betroffenen Kranken und die insgesamt betroffene Bevölkerung, wenn die innere Reform der überalterten und antitherapeutischen Strukturen der Westberliner Anstaltspsychiatrie blockiert würde, weil der Verwaltung die hoffnungslose Friedhofsruhe der traditionellen psychiatrischen Anstalt bequemer ist als die Unruhe und die Konflikte, welche die Realisierung einer ‚therapeutischen Gemeinschaft’ notwendig begleiten.“

Frau Ingeborg Urspruch, Psychiaterin und Psychoanalytikerin, erste Chefärztin der Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige in München nach ihrer Gründung 1979, Zeitzeugin der frühen 70er Jahre in Berlin (sie lernte Ammon 1970 kennen, absolvierte dann die psychotherapeutische und analytische Weiterbildung am Institut) berichtet: „1971 habe sie, als junge Assistenzärztin in der KaBoN, zusammen mit Beschäftigungstherapeuten und einer anderen jungen Ärztin, auf dem Rasen sitzend „Schizophrenie und Familie“ (von Bateson, Jackson et al.) gelesen. Dies sei ein Sakrileg gewesen und von der internistischen Chefärztin fotografiert und einige Wochen später von dem zuständigen Chefarzt der Abteilung stark kritisiert worden. Zudem habe er daraufhin die Probezeit der Kollegin, damals wie sie in Weiterbildung am LFI Berlin, nicht verlängert.“

Eine Gruppe aus Assistenzärzten und Beschäftigungstherapeuten traf sich außerhalb der Klinik, wobei es zu einer schwierigen, spannungsreichen Gruppendynamik mit viel Rivalität zwischen den beiden Berufsgruppen gekommen sei. Ein Assistenzarzt habe vorgeschlagen, eine gruppendynamische Selbsterfahrungsgruppe zu gründen zur Verbesserung der Kommunikation. Dieser meinte dann eines Tages, er habe jetzt ein Institut gefunden, an dem sie auch bestehende Gruppen aufnehmen würden …

Frau Urspruch ging dann bald auf die Alkoholiker-Abteilung der Außenstelle Tegel, weil die Verhältnisse im Haupthaus auch für sie unerträglich gewesen seien. Sie erinnert an eine alte Frau aus der chronischen Abteilung, die vor 70 Jahren als Waisenkind in die KaBoN aufgenommen worden war und der man ihre zwei Ohrringe, ihr einziges Hab und Gut, abgenommen hatte. Als sie das erste Mal an ihrer Therapiegruppe teilgenommen hatte, habe sie geäußert: „Hier wurde endlich mal menschlich gesprochen.“

Als ich 1979 als Psychologie-Studentin in der KaBoN ein Praktikum machte, sah ich noch voller Entsetzen, wie viele Kinder in ihren Betten „fixiert“, sprich angekettet, lagen und flüchtete dann ebenfalls nach Tegel auf die Alkoholiker-Abteilung.

1973/74 arbeiteten in der Klinik sieben Assistenzärzte, die am LFI Berlin in psychotherapeutischer / psychoanalytischer Weiterbildung waren: neben Ingeborg Urspruch Adelheid Barth, Jan Pohl, Gerhard Röhling, Burkhard Gülsdorff, Matthias Hirsch und Regine Schneider. Am Anfang habe sie, Frau Urspruch, noch Valium verordnet beim Entzug; später fiel ihr auf, dass sie damit aufgehört hatte: die emotional tragfähige Struktur (kleine Gruppen, Gruppen- und Milieutherapie, Vollversammlungen und Patienten-Stationssprecher) fing die Angst der Patienten, die beim Entzug frei wurde, ausreichend auf.

Auch diesen Reformbestrebungen sei sehr viel Druck und Widerstand entgegengebracht worden. Der vorgegebene institutionelle Rahmen erwies sich als zu unflexibel, sodass Wünsche nach einer eigenen Dynamisch-Psychiatrischen Klinik aufkamen.

1972, drei Jahre vor der Veröffentlichung der deutschen Psychiatrieenquete, erarbeitete das LFI Berlin einen Reformvorschlag zur inneren und äußeren Reform der psychiatrischen Krankenversorgung in Westberlin in Beantwortung einer Umfrage des Berliner Senators für Gesundheit und Umweltschutz. In diesem wurde u.a. eine „Entflechtung der psychiatrischen Großkrankenhäuser und Schaffung von Spezialeinrichtungen“ gefordert sowie die „Gleichstellung der psychisch und somatisch Kranken“ (Ammon 1973).

 

3) Die heutige Situation

Günter Ammon, der Gründungsvater des Berliner Mutterinstituts der DAP, starb am 3. September 1995. Ich erinnere mich noch, wie Judge Amnon Carmi, Counselor der WADP und langjähriger Mitstreiter Ammons und seiner Gruppe aus Haifa, auf der Trauerfeier in der Kreuz-Kirche in Berlin-Wilmersdorf in seiner Rede meinte: „Ammon und Tod – das passt so gar nicht zusammen…“ Und doch war es so: der vitale, energiegeladene Mensch, der über so viele Jahre so vielen von uns Herausforderer für menschliches, geistiges wie professionelles Wachstum war – wobei das eine nie vom anderen zu trennen war –, Reibungsfläche, Motor und Motivator, lebte nicht mehr. Zeitgleich mit der Trauer war da der klare Wunsch, das Bedürfnis und der Wille, das Institut weiterzuführen, es am Leben zu erhalten – verkörpert vor allem durch Prof. Dr. Maria Ammon, die bereits seit Ende der 80er Jahre das Institut mit ihrem Mann geleitet hatte, aber auch durch die Mehrheit der Mitarbeiter des Instituts.

Seit 1999, dem Jahr des Psychotherapeutengesetzes, ist das Institut staatlich anerkannte Ausbildungsstätte zum Psychologischen Psychotherapeuten in den analytisch fundierten Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie. Die angeschlossene Institutsambulanz war seit 2004 unter der Leitung von Dr. Johannes Kreissl, seit 2012 unter Leitung von Thomas Brandt und  Dr. Klaus Lindstedt. 2003 kam die Anerkennung für die dreijährige Vollzeitausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie hinzu.

Seit 2005 – nach der Ermächtigung durch die Ärztekammer – bildet das Institut wieder Ärzte in Psychotherapie weiter, wofür sich vor allem Frau Sieglinde Bast einsetzte, seit dieser Zeit in der ärztlichen Leitung des Instituts. 2010 schließlich folgte die Ermächtigung des Instituts für die Weiterbildung von Ärzten in analytischer Psychotherapie. Die Leitung haben Dr. Reimer Hinrichs und Dr. Lothar Schlüter-Dupont inne. Im Arbeitskreis aller staatlich anerkannten Berliner Ausbildungsinstitute wird das LFI vertreten durch die Psychoanalytikerin Petra Kiem. 

Ein Kooperationsvertrag besteht seit Jahren mit dem WIPF, dem Weiterbildungsinstitut für Psychosomatische Frauenheilkunde, unter der Leitung von Frau Dr. Martina Rauchfuß.

Durch den Kontakt und die Vermittlung von Dr. Schlüter-Dupont konnten wir unsere Gruppe von Lehrtherapeuten und Supervisoren erheblich erweitern, was inzwischen zu einem regen und anregenden Gedankenaustausch und befruchtender Zusammenarbeit geführt hat – institutionalisiert in regelmäßigen Supervisorentreffen am Institut, aber auch schon mehrfach in Paestum, dem Tagungszentrum der DAP in Süditalien. Es ist spannend und schön zu erleben, wie die Gruppe der Supervisoren, die aus den unterschiedlichsten Traditionen psychoanalytischer Schulrichtungen kommen, im Laufe der Jahre durch den intensiven geistigen und menschlich-freundschaftlichen Kontakt immer mehr zusammengewachsen ist. Wir freuen uns auch über die aktive Mitarbeit der Professoren Joachim Bauer und Volker Tschuschke.

Die gruppenpsychotherapeutische Weiterbildung hat einen deutlichen Aufschwung erlebt unter der Leitung des Fachbereichs durch Petra Kiem und Prof. Tschuschke.

Auch seinem Schwerpunkt Gruppendynamik ist das Institut seit seinen Anfängen treu geblieben, bis heute lebendig in Gestalt von gruppendynamischen Wochenenden, die Selbsterfahrung in der Gruppe, Supervision und Kreativgruppen wie Tanztheater und Kreatives Schreiben anbieten. Ein zusätzliches Element stellt die analytische Tanzselbsterfahrung dar. Zudem gibt es fortlaufende Supervisions- und Intervisionsgruppen für LehrerInnen. Das LFI bietet eine Fort- und Weiterbildung in analytischer Gruppendynamik an, unter der Fachbereichsleitung von Frau Ruth Lautenschläger (Psychoanalytikerin) und Frau Andrea Riedel (Lehrerin), die hauptsächlich an den erwähnten Wochenenden, aber auch während gruppendynamischer Tagungen in Paestum stattfindet (wo im Übrigen auch die werdenden Psychotherapeuten ihre Selbsterfahrung in der Gruppe absolvieren können).

Soweit nicht ausdrücklich auf Psychotherapeuten resp. solche in Ausbildung beschränkt, ist das gruppendynamische Angebot des Instituts für alle Interessenten prinzipiell offen.

Das Psychotherapeutengesetz von 1999 hat die Bedingungen, unter denen auch am LFI Berlin psychoanalytische und therapeutische Ausbildung stattfindet, radikal verändert. Weitgehende Standardisierung der Curricula, erhöhte Belastung durch zumeist unbezahlte, lang dauernde psychiatrische Praktika und Zeitdruck drohen den Freiraum auch für ein mehrdimensionales Persönlichkeitswachstum des einzelnen Ausbildungskandidaten einzuengen.

Die regelhafte Verknüpfung von einzel- und gruppentherapeutischer Ausbildung, wie in der Gründungszeit und noch in den 90er Jahren, findet nicht mehr statt. Dennoch kommt der Selbsterfahrung in der Gruppe, sei es nun in einer gruppendynamischen oder einer psychotherapeutischen Gruppe, nach wie vor ein hoher Stellenwert zu. Ich möchte hier Ilse Burbiel aus ihrem Vortrag „Identität und Gruppenbezug. Herausforderungen an den zukünftigen Psychotherapeuten“ von 2007 zitieren: „Er [der Analytiker / Therapeut] sollte sich mit seinen eigenen destruktiven und defizitären lebensgeschichtlichen Gruppenerfahrungen in einer Gruppenpsychotherapie auseinandergesetzt haben, sodass er positive Gruppendynamiken und -bezüge verinnerlichen und so eine freundliche und offene Haltung gegenüber Gruppen einnehmen kann. […] Dies meint vor allem eine im Unbewussten verankerte innere Bezugnahme zum anderen Menschen, nicht nur in einer Zweiersituation, sondern auch in einer Gruppensituation. Gruppenbezug meint eine Haltung, eine Einstellung zu dem Du und dem Wir, einem tiefen Wissen um die vielseitigen Möglichkeiten einer Gruppe, ihrer kreativen Schätze und last not least ihrer ungeheuren Kraft und Veränderungswucht, wenn diese sich solidarisiert, um ein Gruppenziel zu erreichen. Möglicherweise liegt in dieser emanzipatorischen und kreativen Kraft der Gruppe die Skepsis und Ablehnung begraben, die autoritär strukturierte und veränderungsresistente Systeme gegenüber Gruppenbildungen und einer Beschäftigung mit Gruppendynamik haben“ (Burbiel 2007).

Auch Psychotherapeuten, die ausschließlich im einzeltherapeutischen Setting arbeiten wollen, können umso eher auch schwerer gestörte Patienten tragen, je mehr sie selbst Teil eines tragfähigen Beziehungsgeflechts, eines Gruppennetzes, sind.

Das Gruppenprinzip ist von uns Älteren so stark verinnerlicht, dass es sich doch, ungeachtet aller Widrigkeiten sich verselbständigender Sachzwänge sowie innerer Widerstände immer wieder Bahn bricht. Es äußert sich auch täglich im dichten, persönlichen Kontakt sowohl zwischen Mitarbeitern, Ausbildern und Auszubildenden als auch der Ausbildungskandidaten untereinander.

 

Ausblick

Gerade gestartet ist ein Forschungsprojekt zur Effizienz von psychodynamischer Psychotherapie im Rahmen der Institutsambulanz unter der Leitung von Prof. Tschuschke.

Herausforderungen, die auf das Institut im sechsten Jahrzehnt seines Bestehens zukommen werden, ergeben sich nicht zuletzt durch die sich ankündigende Reform des Psychotherapeutengesetzes im Sinne einer dualen Direktausbildung sowie durch die anstehende – sagen wir: gleitende – Übergabe von Leitungsverantwortung von der zweiten an die dritte Generation.

Anfang April 2020 wird das 32. Internationale Symposium der DAP in Berlin stattfinden. Es wird der sechste Kongress sein, der vom Berliner Institut  ausgerichtet  wird.  Mit seinem Thema: „Frieden und Aggression – Eine gesellschaftliche Herausforderung für Psychiatrie und Psychotherapie“ knüpft er auf einer tieferen Ebene an den Kongress von 1986 an der HdK an, der sich ebenfalls mit einer zentralen Dimension menschlicher Existenz, der Androgynität, beschäftigte. Damals wie heute zeigt sich hier ein grundsätzliches Anliegen Ammons und seiner Schule, die Psychoanalyse nicht auf eine Behandlungstechnik zu reduzieren, sie vielmehr immer wieder zu öffnen in Kultur- und Gesellschaftstheorie hinein. “Die Psychoanalyse sollte ihre gesellschaftliche Verantwortung erkennen und annehmen.“ Dieses Diktum von 1969 gilt heute nach wie vor.

Ich wünsche dem Berliner Institut, dass es mit Selbstbewusstsein und Dankbarkeit auf seine spannende, außergewöhnliche Vergangenheit zurückblickt sowie seine Freiräume in einer zunehmend digitalisierten, bürokratisierten Welt erfolgreich verteidigt, auch gegen den Ökonomisierungsdruck, und offensiv für eine kreative, neuen Entwicklungen gegenüber offene Weiterentwicklung nutzt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dipl.-Psych. Gabriele von Bülow M.A.
Psychoanalytikerin, Psychologische Ausbildungsleiterin und Institutsvorstand am LFI Berlin

 

Literatur

Ammon, G. (1968): Dynamische Psychiatrie. Dynam. Psychiat. 1: 6–18
(1970a): Zur psychoanalytischen Theorie und Praxis von Anpassung und Emanzipation.
Psychiat, 3: 4-19
(1970b): Ich-Struktur und Gesellschaft: Zur psychoanalytischen Dynam. Psychiat. 3:65–76
(1980): Dynamische Erweiterte Neuauagabe. Kindler: München
(1995): Der mehrdimensionale Mensch. 2., erweiterte Berlin: Pinel

Bacia, H. (1968): Die „Psychotherapeutische Beratungsstelle – Beratungsstelle für Intimfragen“ an der Freien Universität. Dynam. Psychiat. 1: 52–57

Burbiel, I. (1996): Psychoanalytische Ausbildung in der Dynamischen Psychiatrie. Dynam. Psychiat. 29: 213–221
(2007): Identität und Herausforderungen an den zukünftigen Psychotherapeuten. Unveröffentlichtes Manuskript
(2008): Günter Ammon – Leben und Werk. Psychiat. 41: 5–19

Marcuse, H. (1965): Kultur und Gesellschaft 1 und 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp
(1967): Der eindimensionale Mensch. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Volger, H. (1983): Tendenzen und Elemente bei der Entwicklung einer neuen Psychiatrischen Schule – die Berliner Schule der Dynamischen Psychiatrie. Dynam. Psychiat. 16: 347–382

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